Eine Hoch­schul­aus­bil­dung ist in Bra­si­li­en nicht selbst­ver­ständ­lich. Der­zeit sind von den 204 Mili­o­nen Ein­woh­nern nur 2,8 Mil­lio­nen an staat­li­chen und pri­va­ten Uni­ver­si­tä­ten ein­ge­schrie­ben – ~1,3 Pro­zent der Bevöl­ke­rung. (In Deutsch­land: 2,8 Mil­lio­nen von 82 Mil­lio­nen – ~3,4 Prozent.)

Viel­leicht hat des­halb die Ver­ab­schie­dung von Hoch­schul­ab­sol­ven­ten hier einen ande­ren Stel­len­wert als in Deutsch­land. Am Wochen­en­de war ich auf der Bachelor-Graduationsfeier der Uni­ver­si­da­de Fede­ral de São Pau­lo (UNIFESP), auf der die Absol­ven­ten der Mathe­ma­tik, Mate­ri­al­wis­sen­schaf­ten, Com­pu­ta­tio­nal Engi­nee­ring und Bau­in­ge­nieu­re ver­ab­schie­det geehrt wur­den. Ver­ab­schie­dung ist hier nur teil­wei­se rich­tig, weil vie­le im Mas­ter wei­ter­ma­chen. Das hin­dert die Uni­ver­si­tä­ten aber nicht dar­an, auch den Bachelor-Abschluss der­ma­ßen zu fei­ern, dass ich vor lau­ter Stau­nen nicht mehr herauskam.

Ich beschrei­be im fol­gen­den den Ablauf der gut vier­stün­di­gen Ver­an­stal­tung. Anwe­send waren neben der Prä­si­den­tin der Uni­ver­si­tät der Dekan und alle Pro­fes­so­ren, in deren Fach­ge­biet es Absol­ven­ten gab.

Aber kom­men wir erst zum Vor­spiel: Vor der eigent­li­chen Ver­an­stal­tung stand für die Absol­ven­ten ihr Pho­to­ter­min an. Alle Absol­ven­ten beka­men einen Talar samt Dok­tor­hut (hier im Deut­schen ein unpas­sen­der Begriff; „Aka­de­mi­ker­hut“ trä­fe es bes­ser). Vor den Flag­gen wur­den dann von einem Pho­to­gra­phen Pho­tos gemacht. Erst allei­ne, dann auch je nach Wunsch mit Freun­den, Kom­mi­li­to­nen oder der Familie.

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Wäh­rend im Flur noch vie­le Pho­tos gemacht wur­de, gin­gen wir schon mal in den Hör­saal. Spe­zi­ell die­ser Hör­saal wird auch für Fei­ern ver­wen­det, was ich an der geho­be­nen Aus­stat­tung sofort bemerk­te. Man beach­te nur fol­gen­de „Bänke“/„Stühle“:

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Unglaub­lich bequem. Man könn­te direkt dar­in ein­schla­fen. Dazu kamen wir aber nicht, denn mit nur cum cum cum tem­po (also für bra­si­lia­ni­sche Ver­hält­nis­se pünkt­lich) begann der offi­zi­el­le Teil.

Mit dem Ein­lauf der Professoren.

Ja, Ein­lauf. Das kann man sich wie bei einer Show vor­stel­len. Zu Beginn sah es so aus:

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Nach einer kur­zen Begrü­ßung durch den Dekan rief er die Pro­fes­so­ren ein­zeln auf, die unter  Applaus wie Film­stars die Büh­ne betra­ten. Nach­dem alle Hel­den, äh, Pro­fes­so­ren, ihre Plät­ze ein­ge­nom­men hat­ten, ging es mit den Absol­ven­ten wei­ter, die bis­her noch drau­ßen war­ten muss­ten. Auch sie lie­fen unter Namens­nen­nung, nach Stu­di­en­gang sor­tiert, unter lau­tem Applaus ein und wur­den dabei noch­mal mehr­fach beim Ein­lauf pho­to­gra­phiert. Bei man­chen Absol­ven­ten ertön­ten sogar Vuvuz­elas von deren „Fan­club“ beim Einlauf.

Nach­dem anschlie­ßend alle im Hör­saal saßen, erho­ben sich alle, um die Natio­nal­hym­ne zu sin­gen. Und zwar rich­tig. Mit lau­ter Hin­ter­grund­mu­sik (man­gels Orches­ter). Mit Kraft. Mit Gefühl. Laut. Deut­lich. Wie im Sta­di­on. Ui.

Danach begann ein eher ruhi­ger Teil. Die Pro­fes­so­ren hiel­ten alle eine Rede, die teil­wei­se 15 Minu­ten dau­er­ten. Die Reden han­del­ten alle auch über Ver­ant­wor­tung und Ethik. Über die Ver­ant­wor­tung, die die Absol­ven­ten gegen­über der Gesell­schaft haben, die viel ihn sie „inves­tiert“ hat. Über die Ver­ant­wor­tung, ihr Wis­sen nur mora­lisch und ethisch im Ein­klang mit den Wer­ten der Gesell­schaft zu nut­zen. Über die Tech­nik, die kein Selbst­zweck ist son­dern dazu da ist, den Men­schen zu die­nen. Und nie dazu füh­ren darf, den Men­schen oder der Umwelt zu scha­den. Was für Reden!

Toll! Und es kam noch bes­ser: Den nach den Reden muss­ten alle Absol­ven­ten ihren Eid ableis­ten. Aber nicht alle den glei­chen: Für jeden Stu­di­en­gang wur­de satz­wei­se ein eige­ner Eid vor­ge­le­sen, den die Absol­ven­ten im Ste­hen und mit aus­ge­streck­tem rech­tem Arm nach­sa­gen mussten.

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Anschlie­ßend wur­den die Urkun­den ver­lie­hen. Die Stu­den­ten wur­den ein­zeln auf­ge­ru­fen und beka­men von ihrem jewei­li­gen Pro­fes­sor ihre Urkun­den. Und kuschel­ten miteinander.

Nun, das Wort ist viel­leicht doch etwas stark, aber passt hier trotz­dem. Die Bra­si­lia­ner sind ja für ihre „Kon­takt­freu­de“ bekannt, und auch hier umarm­ten sich immer wie­der alle gegen­sei­tig. Die zwei Pro­fes­so­rin­nen wur­den auch immer, wie es sich hier gehört, von ihren Studenten(-innen) „abge­küsst“. Und auch die Pro­fes­so­ren umarm­ten ihre Stu­den­ten, dass man mei­nen könn­te, hier hat der Vater sei­nen jahr­zehn­te­lang ver­lo­re­ren Sohn wiedergefunden.

(Ich ver­su­che es hier wirk­lich, nicht zu über­trei­ben. Die Umar­mun­gen dau­er­ten tat­säch­lich oft 5–10 Sekun­den und hat­ten sicht­bar viel „Kraft“. Aber ich beschrei­be das hier auch aus deut­scher Sicht. Aus bra­si­lia­ni­scher Sicht ist das über­haupt nicht erwäh­nens­wert, wie mir zwei Bra­si­lia­ner versicherten.)

Nach der Ver­lei­hung, wäh­rend­des­sen das Publi­kum die gan­ze Zeit kräf­ti­gen Applaus gab, wur­den wei­te­re Reden gehal­ten. Und zwar von jeweils einem Absol­ven­ten jedes Stu­di­en­gangs. Die­se Reden han­del­ten auch von der Ver­ant­wor­tung, aber auch von Dank­bar­keit und Lob für die Pro­fes­so­ren und die Universität.

Anschlie­ßend hielt die Prä­si­den­tin eine all­ge­mei­ne Rede. Danach bat der Dekan alle Eltern im Saal, auf­zu­ste­hen. Er hielt eine mehr­mi­nü­ti­ge Rede, in der er den Eltern für ihre Kin­der dank­te. Für die gute Erzie­hung. Für die Für­sor­ge. Wäh­rend die­ser Rede lief Film­mu­sik im Hin­ter­grund, wohl um die Bedeu­tung zu unter­strei­chen. Am Ende der Rede wur­de die Musik laut und es gab drei Minu­ten lang ste­hen­den Applaus von der Büh­ne und dem Hör­saal für die Helden=Eltern, von denen sich man­che in den Armen lagen und weinten.

Danach ging die Ver­an­stal­tung mit dem Hut­wurf der Absol­ven­ten und letz­ten Glück­wün­schen zu Ende.

Puh.

Ich wün­sche mir, die Ver­lei­hun­gen in Deutsch­land wür­den auch mehr in die­se Rich­tung gehen. Ich fand die gesam­te Ver­lei­hung groß­ar­tig und dem Anlass ange­mes­sen, nach vie­len Jah­ren har­ter geis­ti­ger Arbeit einen wür­di­gen Schluss­punkt zu set­zen. Selbst wenn es nur ein Zwi­schen­punkt sein soll­te, wenn man mit dem Mas­ter wei­ter­ma­chen soll­te. Dass alle Absol­ven­ten, nicht nur Medi­zi­ner und Juris­ten, einen Eid able­gen müs­sen, um zu schwö­ren, mit ihrem Wis­sen weder Mensch­heit noch Natur zu scha­den, fin­de ich sehr gut und wür­de das auch ger­ne in allen deut­schen Uni­ver­si­tä­ten sehen. Gut, Schwö­ren soll­te man dann viel­leicht nicht mit erho­be­nem rech­ten Arm, aber das sind Details.

Als Kon­trast zum Schluss noch kurz mein per­sön­li­ches Erleb­nis mit mei­ner Bachelor-Urkunde an der TU Darm­stadt. Es geschah an einem Vor­mit­tag. Ich lief im Flur ent­lang, als mich eine Sekre­tä­rin sah und ihr ein­fiel, dass im Sekre­ta­ri­at etwas für mich lag. Rein­ge­hen, Aus­weis vor­zei­gen, Map­pe neh­men, raus­ge­hen, fer­tig. Hm. Tja. Fertig.

Rück­bli­ckend fin­de ich das so deprimierend.

(Hin­weis: An der TU Darm­stadt gilt der Mas­ter als „Regel­ab­schluss“. Mit die­sem Hin­ter­ge­dan­ken macht man kei­ne Ver­ab­schie­dung für Bachelor-Absolventen. Das habe ich auch immer gewusst, aber aus heu­ti­ger Sicht fin­de ich das über­haupt nicht mehr gut.)